Neues aus der Quest Akademie
Nähe und Distanz
Raum und Zeit sind Dimensionen in unserem Leben, deren Wahrnehmung und Bedeutung durch die Pandemie beeinflusst werden. Im letzten Newsletter haben wir Zuversicht, einen Aspekt der Zeitwahrnehmung, thematisiert. Was noch offensichtlicher durch die Pandemie verändert wurde, ist die Raumdimension. Die Notwendigkeit, Abstand halten zu müssen, um Leben nicht zu gefährden, ist ein radikaler Eingriff in unser Leben. Ein seltenes Ereignis in unserer Kultur: Aus Fürsorge beschränken wir Autonomie.
Die Unterscheidung von Nähe und Distanz gehört zum grundlegenden, oft unbewussten Koordinatensystem allen (menschlichen) Lebens. Es gibt unausgesprochene gesellschaftliche Konventionen, die kulturell unterschiedlich sein können, über das, was als angemessene Nähe wahrgenommen wird. Die wissenschaftliche Teildisziplin, die das erforscht, heißt „Proxemik“ (von lat. proximare: sich nähern).
In der (professionellen) Arbeit mit Menschen („der Arbeit am Lebendigen“) bekommt der Umgang mit Nähe und Distanz noch einmal eine besondere Bedeutung. Wir lassen Menschen „nah“ an uns heran und behalten gleichzeitig eine „professionelle Distanz“. Wir sind „berührbar“ und „resonant“ und vermeiden gleichzeitig eine „emotionale Ansteckung“. Die Verzweiflung unseres Gegenübers lässt uns nicht verzweifeln. Wir „containen“ die Problemtrance und lassen uns nicht infizieren. Wenn es gut läuft, gelingt es uns durch unsere professionelle Kompetenz daran mitzuwirken, sie in Lösungstrance zu verwandeln.
Viele Menschen in helfenden Berufen sind Nähetypen. Mit diesem Terminus hat Christoph Thomann den „depressiven Typ“, wie Fritz Riemann ihn 1961 in seinem Klassiker der psychologischen Literatur „Grundformen der Angst und die Antinomien des Lebens“ nennt, annehmbarer bezeichnet. Der zweite Teil im Titel des Buches, das ca. eine Million Mal verkauft und in 45 Sprachen übersetzt wurde, wurde im Laufe der Zeit weggelassen. Das Buch wird 60 Jahre alt, es hat in diesem Jahr Geburtstag! Die im Buch ausgeführten Gegensätzlichkeiten (Antinomien) beziehen sich auf Ängste, bzw. daraus abgeleiteten Wünschen, die sich au Raum und Zeit beziehen. Im räumlichen Kontext lautet die „Antinomie des Lebens“: Angst vor Nähe und Hingabe (Distanztyp) versus Angst vorm Alleinsein und Einsamkeit (Nähetyp).
Im Kontext Zeit steht die Angst vor Veränderung und Vergänglichkeit (Dauertyp) der Angst vor Stillstand und Unabänderlichkeit (Wechseltyp) gegenüber.
Der Distanztyp (in der Sprache von Riemann „schizoid“ genannt) meidet Nähe und Bindung und sucht Unabhängigkeit und Autarkie. Klarheit und Kompromisslosigkeit kennzeichnen diesen Typ. Für Nähetypen ist dagegen Selbstständigkeit eine Gefahr, weil sie mit dem Verlust von Geborgenheit assoziiert ist. Sie tun und ertragen viel für andere. Altruismus, Empathie und Friedfertigkeit sind Merkmale dieses Typs.
Die pandemiebedingte Notwendigkeit bzw. der Zwang, Abstand halten zu müssen, müsste den Nähetypen also mehr widerstreben als den Distanzorientierten. Der Rückzug in die „häusliche Geborgenheit“, so es eine solche gibt, dürfte ihnen allerdings (anfänglich) gefallen haben.
Klar ist, dass nach so langer Zeit des Rückzugs und insbesondere der Autonomieverletzung (ob wir wollen oder nicht: wir müssen Abstand halten) der Überdruss wächst. Positiv formuliert: Wir spüren und wissen (wieder), was uns wichtig ist: Unsere Freiheit, das zu machen, was wir wollen. Auf einmal wird Schule zum Sehnsuchtsort, der Wert von Begegnung, Freundschaft und Gemeinsamkeit wird für alle deutlich. Wenn es denn hoffentlich bald wieder so ist wie vor der Pandemie, sollten wir diese Erkenntnis behalten:
Ich kann auf Distanz nah sein und in der Nähe distanziert und zur Begrüßung die Hand zu geben, ist eine mutige und sinnvolle Form der Kontaktaufnahme (wenn nicht Pandemie ist).
Das Werteentwicklungsquadrat zu Nähe und Distanz
„Ein Schritt zurück,
das Meer weit, der Himmel unendlich“
Hautkontakt ist ein primäres Bedürfnis wie Essen und Trinken. Ohne Nähe verkümmern wir. So ist das, einerseits. Und ohne Abstand, Distanz und Loslassen entwickeln wir uns nicht. Individuation, „Werde der du bist“ ist nur mit Nähe nicht zu haben. So ist das, andererseits. Wir finden als Pole des Lebens einerseits Nähe, Geborgenheit und Sicherheit und andererseits Abstand bzw. Distanz, Entwicklung und Risiko. Wie immer gibt es auch hier ein Zuviel des Guten:
Zuviel Nähe wird zu Verschmelzung und Selbstaufgabe und die Übertreibung von Distanz führt zu Isolation, Kälte und Vereinsamung.
Eine Kernbotschaft unserer Kommunikationsseminare ist, dass gelungene Kommunikation die Verbindung von Empathie und Klarheit darstellt: „Man sollte dem anderen die Wahrheit wie einen Mantel hinhalten, dass er hineinschlüpfen kann und sie ihm nicht wie einen nassen Lappen um die Ohren schlagen.“ (Max Frisch)
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen, dass Sie immer wieder in eine für Sie stimmige Balance finden zwischen Nähe und Distanz – auch in pandemischen Zeiten.